Alexander Bertsch

Die endliche Reise (1999)

Ein Mann namens Costka verschwindet eines Tages in Finnland spurlos. Eine Gruppe Deutscher, Weggenossen aus der Zeit von 1968, reist nach Finnisch Karelien, um ihren Freund aus früheren Zeiten aufzuspüren. Ihre Suche entwickelt sich zu einer Reise in die Vergangenheit. Mehr und mehr wird deutlich, wie sehr sich ihre Wege inzwischen getrennt haben. Erzählt wird diese Geschichte einer Reise von Gustav Berkin, einem Vertreter der nächsten Generation, der durch völlig andere Umstände zu jener Reisegruppe gestoßen ist.
Gustav Berkin wird von dieser Landschaft der Wälder und Seen tief berührt.

Immer stärker gewinnen die von Costka hinterlassenen Gedichte und Aufzeichnungen Einfluss auf ihn. Vor allem der Bericht über das Mädchen Mirkka, dem Costka den Titel "Die Archäologie der Einsamkeit gegeben hat."

Gustav selbst erlebt eine kurze und intensive Beziehung zu der finnischen Geigerin Elina. Dazu kommen noch die Gedankenspiele seiner Mitreisenden, die ihre Argumente, Meinungen oder auch die Trümmer ihrer Jugendträume bei ihm abladen.

Und dennoch sind alle aus einem einzigen Grund zusammengetroffen: dem Verschwinden Costkas. Zurück bleiben seine verlassene Hütte in den finnischen Wäldern und das autistische Mädchen Mirkka, zu dem Costka eine außergewöhnliche Beziehung hatte. Niemand ahnt, weshalb er verschwand und ob er wiederkehren wird. All dies setzt Gustav zu. Als er schließlich zurückkehrt, ist er ein anderer.

(ALKYON Verlag 1999; Restauflage,
heute erhältlich bei Andreas Hackenberg Verlag
Antiquariat, Medienservice;
Stephanstr.15, 71638 Ludwigsburg; 9.80 € )


Textproben

Jede Reise in die Welt wird nur einmal angetreten. Die Wege ähneln sich vielleicht oder führen in eine ähnliche Richtung. Dennoch gleicht keiner dem anderen. Jeder neue Weg wird zu einem Abschied vom vorhergehenden. Die Trennung kann leicht oder schwer fallen, etwas von uns bleibt zurück. Und selbst wenn wir den früheren Weg in der Erinnerung entlanggehen, hat er sich bereits wieder verändert. Wir erinnern längst nicht alles, setzen Schwerpunkte, sondern aus. Die Zeit arbeitet in dieser Beziehung gegen uns. In anderer Hinsicht ist sie auch mit uns. Denn solange wir in der Zeit sind, werden wir immer wieder aufbrechen, uns einen Weg suchen. Auf der Strecke, die wir zurücklegen, begegnet uns Vertrautes und Fremdes, Angenehmes und Feindliches, Sanftheit und Härte …

Wieder bewegten wir uns die schmale Halbinsel entlang auf Costkas Behausung zu. Huovio hatte das Motorrad abgestellt. Durch den Wald, über Blaubeerengestrüpp, über Steine, die mit Rentierflechte überzogen waren; es knisterte unter unseren Füßen.

Vor uns tauchte schon die Sonne in den See und warf ihn durch die schlanken Birkenstämme mitten in unsere Augen. Als wir an die Stelle kamen, wo das Ufer etwas abfiel und zu unserer Rechten die Hütte Costkas lag, blieben wir stehen.

Aus Costkas Tagebuch:

‚Der Wind, wie von weit her aufgebrochen, erzählt im Vorüberwehen seine luftigen Geschichten. Von der Sonne abgestrahlt, kleine Wasserbewegungen, der ganzen Oberfläche mitgeteilt, Streuung von Lichtreflexen.

Wir müssen dieses Bild für unsere ganze Zeit in uns aufnehmen. Denn es erscheint nur ein einziges Mal auf diese Weise. Und alles wird sich ändern.’

Aus Costkas Gedichten:

Für Mirkka

Zeit um auszuruhen
lege dich unter die Wolken
zum federleichten Schlaf
die Bäume flüstern
ein uraltes Schlummerlied

bedecke dich nicht
mit grünem Wasser
in der Tiefe verirren sich
die Sonnenfäden
der törichte Nachtvogel
krächzt dich hinunter
in dunkle Verliese

bleibe am Tag
und liebe das Licht
der Wind fönt dein Haar
die Birken lächeln dir zu
ein silberblasses Lächeln
des heiteren Waldes

ein hellgrünes Bett
im Sommerhaus
du kleine Zaunkönigin
mit windverspielten Federn
und Gras im Mund

Zwei Felsen

(Für G.)

Unsere erstarrten Rücken
im Spiegelbett des Wassers
flimmernde Schweigelinie

ich denke dich in die Tiefe
in eine dunkle Märchenwelt
aus Kindertagen

der Wind
verweht die alten Lieder
die Sonne
versengt unsre steinernen Stirnen
das Wasser
zerfließt unsre Träume

dein Haar aus Tang
deine Lippen im Sand
dunkel dein Leib
zwei Felsen
grau getrennt
im Fallen
der Zeit

 

Gedanken

Ich habe gedacht
mir gelinge
die Ortung des Lichts
das Ausloten
von Wasser-Zeichen
ich könne
den Entwurf der Welt
entschlüsseln
mich hineindenken
in die Polyphonie
der Zeit

ich habe
ins Leere
gedeutet
ich bleibe nur
bei mir selbst

Aus-Blick

Wir werden sein
Wie die Versteinerungen
das Blut ist abgelaufen
durch Risse und Ritzen
innen
haben wir uns abgewohnt
niemand kannte uns
nicht einmal
wir selbst

Stimmungen

Ich lerne
die Sprache des Lichts
des Wassers
der Waldlabyrinthe

ich singe
die Melodie des Windes
der Birken
der Moorwiesen

ich atme
den Hauch
der Wolkenbeete
Wollgras des Himmels


Pressestimmen

Bemerkenswert ist die reiche, sensible Sprache, auch die Schärfe der politischen Analyse.
Die Distanz wird immer wieder durch den zwanzig Jahre jüngeren Gustav Berkin hergestellt.
Es ist keine Aufarbeitung, eher eine Bestandsaufnahme dessen, was geblieben ist, verbunden mit lebendiger Landschaftsschilderung.
Stuttgarter Zeitung


Bertschs Abgesang auf das Gemeinschaftsgefühl der 68er und seine Klage über den Mangel an Solidarität heutzutage kommt aber nicht moralinsauer daher, sondern mit Wehmut, Sarkasmus und auch Hoffnung – versteckt im Lächeln Elinas oder auf einer Insel im Licht des karelischen Sommers. br />
Heilbronner Stimme


Bertsch versteht es, zum Lesen anzuregen, um dem tieferen Sinn der Geschichte eines Menschen in der Einöde näher zu kommen und der unterschiedlichen Entwicklung der einzelnen Mitglieder der Gruppe nachzuspüren.
Kernerhaus Weinsberg (H.Goebbel)