Alexander Bertsch

Treibgut Mensch (Januar 2020)

Paul Wehrung lernt Sharif kennen, einen syrisch-libanesischen Germanistikstudenten, und sie beginnen, Gespräche über Vertreibung, Heimatverlust, Ausgrenzung und Neubeginn zu führen. Philosophische Positionen werden erörtert, über Befindlichkeiten unserer Gesellschaft, über die Menschenrechte oder, um mit Hannah Arendt zu sprechen, über die Freiheit, frei zu sein wird reflektiert. Namhafte Vertreter*innen der Philosophie in Vergangenheit und Gegenwart kommen zu Wort, doch auch Geschichten und Schicksale zu Flucht und Vertreibung aus verschiedenen Zeiten werden erzählt. Wo liegen die Konstanten, wo die Unterschiede?
Menschen machen sich auf, treiben über Länder und Meere, bis ans vermeintliche Ende der Welt. Sie stoßen an Grenzen, überschreiten sie oder werden zurückgewiesen. Oder sie verharren an Ort und Stelle, bleiben an einem Punkt dieser Erde, an dem sie zufällig geboren wurden, und werden durch Gewalt vertrieben.
Ein Roman über Migration und Philosophie, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – und ein Bekenntnis zur Demokratie und zu Europa.

 

 

2020 verlag regionalkultur
Bahnhofstraße 2
76698 Ubstadt-Weiher
ISBN 978-3-95505-184-6


Pressestimmen

Andreas Sommer in "Heilbronner Stimme" am 14. Februar 2020

 

 

Ostragehege, Dresden
Zeitschrift für Literatur und Kunst
Heft 96, Juni 2020
Herausgeber: Literarische Arena Dresden

UNA PFAU

Treibgut Mensch

Der neue Roman von Alexander Bertsch

Der neueste Roman von Alexander Bertsch erzählt Flüchtlingsschicksale, aber auch Schicksale von rassistisch-ethnisch Verfolgten, vor allem aus der Sicht des Ich-Erzählers, eines pensionierten Lehrers, Paul Wehrung, der um seine vor sechs Jahren verstorbene Frau Erni trauert. Er hat, auch auf Anraten seiner Frau nach seiner Pensionierung noch ein Philosophiestudium begonnen und auch nach ihrem Tod fortgesetzt. So beginnt er, als er dem syrischen Flüchtling Sharif begegnet, einem nachdenklichen jungen Mann, nicht nur Gespräche über Flucht und Heimatverlust, Ausgrenzung und Neubeginn mit ihm zu führen, sondern mit ihm Thesen verschiedener Philosophen wie die von Helmuth Plessner, von Agnes Heller, von Günther Anders, von Walter Benjamin und vor allem von Hannah Arendt zu erörtern. Die Darlegungen wirken so knapp und zugleich durchdacht, dass auch der ungeschulte Leser sieht, dass der Autor des Romans viel Zeit mit den Philosophen verbracht hat. Der Leser erfährt mit Sharif, der sehr gut Deutsch spricht, weil seine Großmutter Deutsche war, nicht nur etwas über philosophische Thesen, sondern auch etwas über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Hannah Arendt nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs für notwendig hielt, und die heute notwendiger als je ist. Für Sharif sind Menschenrechte fremd, weil er in Syrien nur Kriegszustand, den Tod seiner Mutter und den von Freunden erlebt hat. Eines Tages nach einer längeren Pause in ihren Unterhaltungen, um die er Paul Wehrung gebeten hatte, ruft er den alten Lehrer unvermittelt an und bittet um eine Unterredung: Seine Großmutter mütterlicherseits, die deutsche Halbjüdin war, ist gestorben, was ihm einen heftigen Schlag versetzt.
Sie hat einen Bericht auf deutsch darüber hinterlassen, wie sie ihrerseits mit ihrer Familie vor den Nazis nach Paris floh, und dan über Marseille, Algier, Oran mit Hilfe ihres Verlobten, den sie in Marseille kennenlernte, während die Familie auf ein Fluchtschiff nach England wartete, in den Libanon kam, der sehr berührend ist. Mehrere Menschen aus der kleinen Gruppe kommen um; der Vater Rudolf stirbt in einem Lager im Süden Frankreichs; die Familie wird in Marseille auseinandergerissen. Während die Mutter Sarah beim Untergang des Schiffes, das sie nach England bringen sollte, ertrinkt, wird die Tochter Friederike gerettet, ebenso ihre Schwester Claudia, die es nach Nordafrika und in den Libanon verschlägt und die sich der Résistance anschließt, nachdem der Onkel Jakob, der viel für die Familie getan hat, an einem Herzleiden gestorben ist. Die Familie erlebt ein wechselvolles Schicksal, auch andere, die sich engagieren, wie Jonas, der Lieblingsschüler von Paul Wehrung, der in Brasilien geboren, mit einem Indianerstamm befreundet ist und Arzt wird. Er wird, als er den Stamm besucht, von weißen Siedlern im Amazonas, die die Indianer ausrotten wollen, erschossen.
Das Buch ist voll von Schicksalen: Vertreibung und Unterdrückung von ganzen Völkern, aber auch von einzelnen Menschen. Glücklicherweise treten auch Menschen auf, die Sinn darin sehen, sich für andere einzusetzen wie namentlich Wehrungs Freund Bartholomäus, der als hohes Tier in einem Konzern gearbeitet und viel Geld verdient hat, um sich dann in den Odenwald in ein »Campo di Pace« zurückzuziehen, einen alten Bauernhof, den er großzügig ausbaut, um dort alte und kranke Tiere und Menschen aufzunehmen, die sonst keinen Platz in der Gesellschaft haben oder ungerecht behandelt worden sind. Da ist die Kroatin Ljerka, die ihre sehr gute Stelle als Hotelmanagerin kündigen musste, weil ihr neuer Direktor sie sexuell belästigte, und die nun als Kellnerin am Frankfurter Flughafen arbeitet. Das ist allerdings für den Autor ein Grund, in einer etwas störenden Weise zu moralisieren. Bartolo nimmt sie in sein »Campo di Pace« auf. Als sie ihm auf seinen Heiratsantrag hin sagt, sie wolle sich nicht binden, nimmt er das großzügig hin.
Auch in anderen Fällen erweist er sich als großzügig, so im Falle der Kurdin Zilan, die er auch in sein Camp aufgenommen hat, Anlass für sie, auf einer Wanderung Sharif und Wehrung die Geschichte der Unterdrückung der Kurden durch die Jahrhunderte zu erzählen. Sie zieht vorübergehend mit Sharif zusammen, aber die Beziehung hält nicht lange. Als Sharif sich von ihr trennt, weil sich sein nachdenkliches Temperament nicht mit ihrer Munterkeit verträgt, und dann zum Studium nach Berlin geht, rät Bartolo ihr, ihr Studium in Frankfurt wiederaufzunehmen und hilft ihr dabei.
Bartolo, Menschen wie Jakob, der Onkel der Großmutter von Sharif, Menschen aus der Résistance, Moslems, Griechen, auch Paul Wehrung, der Sharif vorübergehend aufnimmt, als seine Wirtin ihm zusätzliche Heizkosten für sein Zimmer berechnet: alle zeigen sich hilfsbereit, während andere Menschen feige und rassistisch wie die Nazis und die Regierung von Vichy sind, oder auch die Zimmerwirtin von Sharif, die seine Notsituation als Flüchtling dazu ausnutzen will, um Mietwucher zu betreiben. Es gibt eigentlich kein Mittelding zwischen Gut und Böse in dem Roman. Die Menschen werden eingeordnet.
Zum Schluss stürzt sich der Autor unter dem Deckmantel Paul Wehrung als pessimistischem Verteidiger des europäischen Denkens und der Demokratie in die politische Diskussion, die ja auch schon im Zusammenhang mit den behandelten Philosophen betrieben wurde. Der größte Teil der Menschen, von denen der Roman handelt, erleidet ein von der Politik veranlasstes Schicksal, insbesondere da ja die behandelten Philosophen, größtenteils Juden, im Dritten Reich rassisch verfolgt wurden.
Wir haben hier also ein durch und durch antirassistischpolitisches, der Demokratie zugewandtes, aber pessimistisches Buch vor uns, in dem der Autor nicht immer seine eigene politische Meinung vertritt, aber viele ernste Geschichten erzählt.

Alexander Bertsch: »Treibgut Mensch«, Roman, verlag regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2020, 304 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3955051846

Una Pfau, Dr., geb. 1942 in Stuttgart. Autorin und Übersetzerin. 2013 erschien im Verlag Matthes & Seitz Berlin eine Untersuchung über »Kubismus und Literatur«. 2020 erschien im Osburg Verlag der Roman »Saint Matorel« von Max Jacob in der Übersetzung von Una Pfau. Lebt in Stuttgart.